Im Zweiten Weltkrieg kämpften mehr Soldaten aus der Dritten Welt als aus Europa (wenn man von der Sowjetunion absieht). Sowohl die faschistischen Achsenmächte als auch die Alliierten rekrutierten in ihren Kolonien Hilfstruppen und Hilfsarbeiter oftmals mit Gewalt. Weite Teile der Dritten Welt dienten als Schlachtfelder und blieben nach Kriegsende verwüstet und vermint zurück. Allein China hatte mehr Opfer zu beklagen als die für den Krieg verantwortlichen faschistischen Mächte Deutschland, Italien und Japan zusammen. Hunderttausende Frauen waren Opfer sexueller Gewalt. Und bei der Befreiung der philippinischen Hauptstadt Manila waren 1945 mehr Bombenopfer zu beklagen als in Dresden, Berlin oder Köln.
Doch so gravierend die Folgen des Zweiten Weltkriegs in der Dritten Welt auch waren, in der hiesigen Geschichtsschreibung wurden sie lange Zeit kaum beachtet.
Dies zu ändern war und ist das Ziel des historischen Langzeitprojekts, mit dem das Rheinische JournalistInnenbüro in Köln in den 1990er-Jahren begann und das seit 2000 von dem gemeinnützigen Verein recherche international e.V. fortgeführt wird.
Nach zehnjährigen Recherchen in 30 Ländern Afrikas, Asiens und Ozeaniens erschien 2005 das erste deutschsprachige Buch zum Thema („Unsere Opfer zählen nicht“, Verlag Assoziation A, Hamburg/Berlin). 2008 folgten Unterrichtsmaterialien und 2009 eine (Wander-)Ausstellung, die seit ihrer Premiere in Berlin in mehr als 60 Locations hierzulande und in der Schweiz zu sehen war. Eine englische Ausstellungsfassung tourt seit 2017 durch Südafrika. Für Mosambik wurde 2020 eine portugiesische Version erstellt.
Die Ausstellung besteht aus vier geografischen Kapiteln (zu Afrika, Asien, Ozeanien und Südamerika & Karibik) sowie aus zwei thematischen (zu „Judenverfolgung außerhalb Europas“ und „Kollaboration“). An zehn Hörstationen berichten Zeitzeug:innen aus verschiedenen Kontinenten von ihren Kriegserfahrungen. Drei Videostationen präsentieren „vergessene Befreier“ aus aller Welt, einen Animationsfilm über ein Verbrechen an Kolonialsoldaten in Westafrika und Kriegserinnerungen von Migrant:innen aus Köln und Umgebung.
Zum Abschluss des Projekts wird die Originalausstellung – rund um den 80. Jahrestag des Kriegsendes in Europa (am 8. Mai 2025) – noch einmal in einer aktualisierten und erweiterten Fassung im Kölner NS-Dokumentationszentrum gezeigt. Sie wird ergänzt um (lokal-)historische Fakten, die in anderen Ausstellungstädten und -ländern hinzugefügt wurden, und im Kellergewölbe des NS-DOK werden zudem künstlerische Reflexionen aus Afrika, Asien und Ozeanien zu Folgen des Zweiten Weltkriegs vorgestellt.
Das umfangreiche Begleitprogramm entstand in Kooperation mit lokalen und überregionalen Initiativen und bietet mehr als 30 Veranstaltungen. Dazu gehören Vorträge, Lesungen, Theateraufführungen, eine Filmreihe, Live-Musik sowie eine Hiphop-Tanzperformance über afrikanische Kolonialsoldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Beteiligt sind internationale Gäste aus Ägypten, Algerien, Frankreich, Italien, Marokko, Kamerun, Brasilien, Korea, Malaysia, Schweiz, Türkei und USA.
Zur Vernissage am 7. März 2025 werden Online-Versionen der Originalausstellung in Deutsch, Englisch, Französisch und Portugiesisch freigeschaltet, und im Archiv für alternatives Schrifttum (afas) in Duisburg bleiben die von recherche international e.V. in vier Jahrzehnten gesammelten historischen Materialien auch nach Abschluss des Langzeitprojekts weiterhin verfügbar.
Die Initiator:innen des Projekts „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“ hoffen, dass die Ausstellung und die Begleitveranstaltungen zum Perspektivwechsel von einer eurozentrischen zu einer globalen Geschichtsschreibung beitragen und zu mehr Verständnis für die Geflüchteten von heute führen. Europa muss sich endlich der historischen Verantwortung stellen, die es gegenüber Kontinenten, Ländern und Regionen hat, die von europäischen Mächten durch Kolonialisierung und Krieg zerrüttet wurden.
Köln, März 2025
Christa Aretz / Karl Rössel (recherche international e.V.)
Zum Begriff „Dritte Welt“
Der Begriff „Dritte Welt“ ist in die Kritik geraten, weil damit Länder von Zentralafrika bis in den Südpazifik trotz all ihrer Differenzen als Einheit behandelt und sprachlich zwei Stellen unter der „Ersten Welt“ eingeordnet werden. Allerdings wird der Begriff im Rahmen dieses (Ausstellungs-)Projekts so verstanden, wie ihn Frantz Fanon, der Theoretiker
der antikolonialen Befreiungskämpfe, in die internationalistischen Debatten eingeführt hat. Fanon bezeichnete damit nicht nur die von kolonialer und neokolonialer Herrschaft Betroffen im „globalen Süden“. Er schloss ausdrücklich auch indigene und migrantische Minderheiten in den Industrieländern des Nordens mit ein, die sich ebenfalls gegen Diskriminierung, Ausgrenzung und Rassismus zur Wehr setzen müssten. In seinem bekanntesten Werk Die Verdammten dieser Erde schrieb Fanon zum Beispiel: „Die Dritte Welt steht heute als eine kolossale Masse Europa gegenüber; ihr Ziel muss es sein, die Probleme zu lösen, die dieses Europa nicht hat lösen können.“ Genau um die Rolle dieser „kolossalen Masse“ im Zweiten Weltkrieg geht es in dem Langzeitprojekt-Projekt von recherche international e.V.
Der Begriff „Dritte Welt“ wird – so verstanden – auch deshalb in der Ausstellung genutzt, weil der aus Martinique stammende Fanon im Zweiten Weltkrieg selbst in den Truppen des Freien Frankreich ge- gen Nazideutschland kämpfte. Dabei musste er feststellen, dass die Strukturen auch in den Streitkräften des Freien Frankreich rassistisch waren. Diese Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg haben Fanons spätere anti-kolonialen und anti-rassistischen Theorien maßgeblich geprägt.
Im Karibik-Kapitel der Ausstellung ist Fanon eine Tafel gewidmet. Im Begleitprogramm stellt seine Mitstreiterin Alice Cherki aus Algerien ihre Fanon-Biografie vor und der algerische Regisseur Mehdi Lallaoui präsentiert einen Dokumentarfilm über Fanon.
Tatsächlich hat sich an den hierarchischen globalen Macht- und Herrschaftsverhältnissen, die Fanon mit den Begriffen „Erste“ und „Dritte“ Welt beschrieben hat, bis heute wenig geändert. Dies zeigt sich zum Beispiel in den aktuellen Debatten über Ursachen und Folgen des Klimawandels. Denn während die Industrienationen der „Ersten Welt“ zweifellos die Hauptverursacher des Klimawandels sind, leiden all diejenigen, die Fanon zur „Dritten Welt“ zählte, ob sie nun aus dem globalen Süden oder Norden kommen, am schwersten unter den Folgen.